Sonntagsgedanken

Sat, 27 Feb 2021 23:00:02 +0000 von Annette Israel

Reminiscere –
„erinnere dich, Gott, an deine Barmherzigkeit!“ (Psalm 25)

Reminiscere ist der Name des Sonntags,
mit dem die neue Woche beginnt.    
 Gott wird erinnert – wir erinnern uns. 
Sich erinnern: Das möchte ich manchmal gar nicht. 
Erinnerung kann so schmerzlich sein: Ein Bild ist da, ein Gefühl taucht aus der Versenkung auf, die Wirklichkeit von damals steht vor Augen. Wenn ich das zulasse, kann ich wie benommen sein.

Doch – seltsam: Ausgelöste Erinnerungen bringen kein einheitliches Gefühl herauf. Es ist nicht damals alles schön gewesen oder romantisch. Es war auch nicht alles hart. In der Erinnerung an böse Zeiten sind die Gedanken und Erfahrungen eingewebt, die doch eigentlich einmal das Gute wollten und umgekehrt. 

Der Predigttext des Sonntags ist ein Lied des Propheten Jesaja, das uns mitnimmt in die Erinnerungen eines Weinbauern:

Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.


 Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?


 Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er kahl gefressen werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.


Liebe, Bemühung, Hoffnung auf eine Weinlese, an deren Abenden man zusammensitzt, erschöpft, aber glücklich. Eine Ernte ist eingebracht – das sind die Gedanken, an die sich der Weinbergbesitzer erinnert, als die große Enttäuschung da ist: Alles verdorben, die Mühe umsonst. 

Und jetzt kommt ein Wutanfall: Dann eben nicht! Dann sollen doch Disteln und Dornen wachsen, wie es ihnen gefällt! Der Zaun wird weggenommen, die Mauer zerstört – Schluss jetzt! 

Und der Freund, von dem Jesaja erzählt ist Gott! 

Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit. (Jes 5,1-7)

Moment mal – ist das nicht der alttestamentliche Rachegott, der den Weinberg zerstört? Haben wir seit Jesus noch etwas mit ihm zu tun?

Diese billige Entlastung vom lieben Gott, der nichts erwartet und alles schenkt, ist nicht der Gott Jesu Christi. Auch Martin Luthers Entdeckung der Gnade Gottes führte nicht zu diesem Gott, der das Sahnehäubchen auf dem Sonntagsessen ist. Der immer liebe Gott ist der Gott der Wohlstandsgesellschaft, die ihn zu einem guten Mann gemacht hat.

Mich an den Gott der Bibel Gott zu wenden hilft mir in den Stunden, in denen ich ratlos oder verzweifelt bin. Ich hoffe, dass er mich hört. Aber von ihm werde ich auch angefragt: Was tust du, wie lebst du, wie gehst du mit anderen um? Siehst du, wo du etwas ändern musst? Trägst du durch dein Verhalten etwas dazu bei, dass gerechte Lebensverhältnisse Wirklichkeit werden? Stiftest du Frieden?  

Mein Verhältnis zu Gott ist keine Einbahnstraße. Ich werde nicht nur beschenkt, sondern das Geschenk ist auch eine Verpflichtung. Wo ich nur einseitig den gnädigen Gott sehe, hinter dem sein Anspruch für diese Welt verblasst, da fehlt etwas Grundlegendes. Daran erinnere dich – Mensch! …am  Sonntag Reminiscere – denn Gott erinnert sich auch an dich. Und dein Tun. 

Das kleine Bild, das wir vom lieben Gott gemacht haben, ist unreif, unzureichend und unbiblisch. 

Wie kam es dazu? Das Zusammenschrumpfen Gottes auf ein menschliches Maß hat sich mit der Epoche der Aufklärung durchgesetzt. Auch der Glaube sollte allein mit dem Verstand erfasst werden können. Komplexe Erinnerungen und Erfahrungen verloren an Bedeutung. In der Folge macht uns in der Gegenwart der Fundamentalismus, der die Bibeltexte als naturwissenschaftliche Berichte und als Moralanweisungen liest, zu schaffen. Ebenso der plumpe Atheismus, der die Vielfalt von Lebenserfahrungen und Gott-Begegnungen als Spinnerei abweist. 

Der Glaube an den einen Gott ist im Alten und Neuen Testament aber nicht davon geprägt, was Menschen sich über Gott denken, sondern was sie mit Gott (oder gegen ihn) tun.

Glaube geht nicht schnell und billig. 

Erinnerungen aufsteigen lassen, das Erlebte vor Gott, dem Weingärtner, Revue passieren zu lassen – und dann zuzupacken, damit am Ende keine sauren Trauben zu ernten sind: Das sind wir unserem Weingärtner schuldig. Er arbeitet hart für uns – wir können das auch für ihn. 
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